Aargau/Solothurn

Frauenkrankheit Lipödem: Betroffene spricht über ihren Alltag mit der Krankheit

Frauenkrankheit

«Berührungen ertrage ich nicht immer» – Betroffene spricht über ihr Lipödem

· Online seit 28.04.2024, 08:07 Uhr
Es ist eine Krankheit, die fast ausschliesslich Frauen betrifft: Lipödem. Vor allem die Beine, manchmal auch die Arme, werden immer dicker und schmerzen, weil sich das Fettgewebe unkontrolliert vermehrt. Die Aargauerin Sara Messmer hat ein Lipödem und schildert, wie die Krankheit ihren Alltag beeinflusst.
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Sara Messmer ist 34 Jahre alt, kommt ursprünglich aus der Ostschweiz und wohnt mittlerweile im Aargau. Sie leidet seit mehreren Jahren unter einem Lipödem. Bei ihr hat es an den Beinen angefangen. Sie hat plötzlich Reiterhosen entwickelt: «Ich erinnere mich noch an eine Situation beim Hautarzt. Ich musste mich ausziehen und er schaute meine Beine von oben bis unten an und meinte nur, ‹sie haben aber auch ausgeprägte Reiterhosen›», erzählt Messmer zu ArgoviaToday. «Ich war völlig perplex. Zum einen, weil ich diesen Arzt nicht aufsuchte, um meine Beine beurteilen zu lassen, und zum anderen wegen der fehlenden Empathie.»

Wie beeinflusst die Krankheit den Alltag von Sara Messmer? «Es ist etwas, das sich äusserlich zeigt. Man sieht es einfach.» Die Betroffene berichtet, dass der Oberkörper nicht zum Unterkörper passe. Man habe immer das Gefühl, dass man falsch zusammengesteckt wurde, so Messmer. «Ich bekomme sehr schnell blaue Flecken und ich spüre eine grobknotige Struktur unter der Haut.» Darüber hinaus leide sie unter Druck- und Berührungsschmerzen. «Wenn mich jemand an den Armen berührt, ertrage ich das nicht immer. Aber auch wenn ich mich eincreme, habe ich oft Schmerzen.»

Das ist aber noch nicht alles. Auch beim Treppensteigen oder Wandern bekommt sie Schmerzen. «Das ist so ein richtig stechender, brennender Schmerz. Es fühlt sich an, als würde jemand Seile um meine Beine schlingen und diese dann zusammenziehen. Es ist ein richtig einengendes Gefühl», erklärt sie weiter. Ausserdem habe sie oft kalte Arme und Beine.

Drei Lipödem-Stadien

Genaue Zahlen, wie viele Personen in der Schweiz betroffen sind, gibt es nicht. Ausserdem gehen Expertinnen und Experten von einer hohen Dunkelziffer aus. Viele Betroffene wissen nichts von ihrer Erkrankung und glauben, dass die Fettvermehrung von einer falschen Ernährung und zu wenig Bewegung kommt. Die genauen Ursachen des Lipödems sind nicht geklärt, wie Manuela Birrer, Leitende Ärztin Innere Medizin und Gefässzentrum am Kantonsspital Baden, erklärt.

«Die Neigung zum Lipödem scheint vererbbar zu sein», sagt Birrer. «Bis zu 60 Prozent der betroffenen Frauen haben nahe Verwandte, die an einem Lipödem leiden», heisst es auf der Webseite des Kantonsspitals Baden. Ein Gen, das für die Entwicklung eines Lipödems verantwortlich ist, konnte bis anhin jedoch nicht identifiziert werden. Die Erkrankung verläuft in drei Stadien, die fliessend ineinander übergehen. Meist dauert der Prozess Jahre, eine Beschleunigung ist jedoch möglich bei starken Gewichts- oder hormonellen Schwankungen.

Langer Leidensweg für betroffene Frauen

Sara Messmer hat Stadium 2 – vor allem die Waden, Oberschenkel und die Arme sind bei ihr betroffen. Die Diagnose für ihre Beine erhielt sie 2021, ein Jahr später kamen dann die Arme noch dazu. «Es hat in etwa zwei Jahre gedauert, bis ich wusste, was los war», sagt sie. Wobei sie nicht genau sagen könne, wann es angefangen habe. Die ersten Symptome treten bei Frauen meist in der Pubertät, nach einer Schwangerschaft oder nach der Menopause auf, daher sind es vermutlich hormonelle Auslöser. Gemäss neuer Studien sei das aber nicht eindeutig, so Birrer.

Wenn Messmer heute Bilder von früher von sich ansieht, glaubt sie, dass es bei ihr bereits zu Teenie-Zeiten angefangen hat. «Da ich auch eine rheumatische Erkrankung hatte, musste ich Cortison zu mir nehmen. Ich habe dadurch innerhalb kürzester Zeit zehn Kilogramm zugenommen.» Cortison verstärkt auch die Wassereinlagen. Sie habe mit ihrem Rheumatologen gesprochen und ihm erzählt, dass sie sich immer unwohler in ihrem Körper fühle. 

Messmer blieb hartnäckig und erwähnte weiter die Gewichtszunahme und die Schmerzen in den Beinen. «Ich bin manchmal die Treppen am Bahnhof kaum mehr hochgekommen.» Als sie das erwähnte, hörte der Arzt genauer hin und überwies sie an das Gefässzentrum im Kantonsspital Baden. Dort wurden Untersuchungen gemacht, bei denen dann die Diagnose Lipödem gestellt wurde. «Ich habe eine Broschüre bekommen und ein Rezept für flachgestrickte Kompressionsstrümpfe. Da ist für mich kurz eine Welt zusammengebrochen. Klar, ich wusste jetzt, was ich habe, aber nicht, wie ich damit umgehen soll», erzählt Messmer. Anschliessend wurde sie in die Lipödem-Spezialsprechstunde in Baden überwiesen.

Die Ärztin bestätigt, dass viele Patientinnen oft eine lange Odyssee hinter sich haben. «Meistens sind es mehrere Jahre, bis eine Diagnose gestellt wird.» Auch den Ärztinnen und Ärzten war die Diagnose lange nicht bekannt. Noch heute wird die Erkrankung oft mit einem Lymphödem oder einer Lipohypertrophie bei Adipositas verwechselt. Wobei es anzumerken gilt, dass rund 80 Prozent der Lipödempatienten adipös sind.

Wie wird ein Lipödem behandelt?

Mit Diäten und mehr Bewegung allein können Betroffene den Fettansammlungen nicht entgegenwirken. Eine Beseitigung der Fettzellen ist nur im Rahmen einer Fettabsaugung (Liposuktion) möglich. In der Regel wird primär ein konservativer Weg gewählt, wie Birrer ausführt. Der konservative Ansatz besteht aus fünf Säulen. Dies sind eine Ernährungs-, Bewegungs-, Psycho- und Kompressionstherapie sowie eine und manuelle Lymphdrainage. Erst wenn die konservativen Massnahmen nicht zu einer relevanten Besserung der Beschwerden führen, kann eine Fettabsaugung in Erwägung gezogen werden. Auch Messmer macht aktuell eine konservative Therapie und trägt jeden Tag regelmässig Kompressionsstrümpfe. «Auch wenn es die Strümpfe mittlerweile in vielen verschiedenen Farben gibt, ist es nicht immer leicht, mit der Situation klarzukommen», berichtet die Patientin.

Was hat sich für Sara Messmer verändert?

Der Zustand eines Lipödems verschlechtert sich in Schüben. Wann ein Schub kommt, kann nicht gesagt werden. Nicht zu wissen, ob sich die Krankheit verschlimmert, ob noch mehr Umfang dazukommt, ist für Messmer schwierig. In Sachen Ernährung hat sie viel ausprobiert, manche Umstellungen passten gut, andere weniger. «Ich habe gelernt, dass ich mir nicht alles verbieten darf. Ausserdem hat sich ihr Kleidungsstil seit der Diagnose verändert. «Ich habe früher nie häufig Kleider getragen, aber wenn ich mir jetzt was Neues zum Anziehen kaufe, dann schau ich schon eher mal nach einem Rock oder nach einem Kleid.»

Auch hat sich ihr Zeitmanagement komplett geändert. «Ich habe plötzlich viel mehr Termine. Ich habe mich neu organisieren müssen, damit ich alles unter einen Hut bekomme», so Messmer. «Ich will mich aber wegen der Krankheit nicht einschränken lassen.» Dennoch gibt es Dinge, auf die sie sensibel reagiert. «Wie kommuniziere ich, wenn mich jemand berührt und ich zucke zusammen, weil ich Schmerzen habe? Wie sage ich das, ohne den anderen zu verletzten?» 

Dazu mache sie sich Gedanken, wie es wäre, wenn sie ein Kind bekommen würde. «Ich habe momentan keine Beziehung, dennoch weiss ich, dass es Frauen gibt, die nach einer Schwangerschaft einen Schub erlitten haben und sehr stark zugenommen haben.» Sie habe sich schon die Frage gestellt, wie das sei – vor allem, weil sie die Krankheit auch weitergeben könnte. «Ich kann auch nicht so einfach schwanger werden, ich nehme viele Medikamente. Da braucht es vorab ein halbes Jahr Vorbereitungszeit.»

Auf die Frage, wie sie sich derzeit fühle, sagt sie, das sei extrem tagesformabhängig. «Wie es bei jedem der Fall ist. Jeder schläft mal schlecht, jede hat mal einen besseren Tag, mal einen weniger guten.» Sie fühle sich so weit gut – einfach mit einem Rucksack bepackt.

veröffentlicht: 28. April 2024 08:07
aktualisiert: 28. April 2024 08:07
Quelle: ArgoviaToday

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